Eine schwere Entscheidung

Eigentlich war Nona ein ganz normales, kleines Mädchen - gerade mal 10 Jahre alt mit langen, kastanienbraunen Locken, ganz vielen Sommersprossen und einer frechen Himmelfahrtsnase. Nur wenn sie lief, konnte man sehen, dass etwas nicht stimmte: sie hatte ein lahmes Bein und hinkte somit. Und das schon so lange sie denken konnte, ihre Mama hatte einmal etwas von Komplikationen während der Geburt erzählt. Aber was wusste Nona schon, was Komplikationen waren?

Sie hatte ein paar Freundinnen, jedoch nicht so viele wie die anderen Mädchen und sie hatte einen Freund - Mondie, der eigentlich Dennis hieß, aber wegen seines Mondgesichts Mondie genannt wurde. Wenn es sich Nona recht überlegte, wurde Mondie überhaupt oft gehänselt, auch, weil er ein bisschen stotterte. Aber davon abgesehen war Mondie der netteste Junge, den sie kannte, denn er nahm sie ernst und schenkte ihr immer die Hälfte seiner Süßigkeiten, sogar die, die er an Weihnachten von seiner Tante Michelle, die Schauspielerin war und wunderschöne Kleider hatte und ganz viel über die verschiedensten Menschen wusste, geschenkt bekam. Die schmeckten den beiden dann auch besonders gut, denn Tante Michelle kam nur an Weihnachten und zu den Geburtstagen. War sie aber mal da, verbrachte sie fast den ganzen Tag mit Nona und Mondie. Das war sehr schön und Nona wünschte sich manchmal, sie wäre ihre eigene Tante.

Beschweren konnte sie sich über ihre eigene Familie eigentlich auch nicht: Mama und Papa hatten so ihre Eigenarten, aber im Grunde hatte Nona es gut bei ihnen. Außerdem waren fast alle Mamas und Papas ihrer Freundinnen und Mitschüler inzwischen geschieden oder stritten sich jeden Tag. Nonas Eltern stritten sich nicht oft, vielleicht hatten sie das in ihrem Alter auch schon hinter sich. Sie waren nämlich schon fast fünfzig Jahre alt und Nonas Bruder Hartmut auch schon über 20. Er war so sehr mit seinem Archeologiestudium beschäftigt, dass er herzlich wenig Zeit für seine Schwester hatte. Nona aber hätte so gern mehr von Hartmut gesehen, doch sie versuchte zu verstehen, warum es so sein musste.

Es war jetzt Winter und bitterlich kalt, doch der Winter war Nonas Lieblingsjahreszeit, denn in der Kälte schleppten sich alle Leute nur so dahin, niemand lief mehr leichtfüßig umher, und sie fühlte sich nicht mehr so anders als alle anderen. Und noch eines: es war bald Weihnachten - und alle würden wieder beisammen sein - Mama, Papa, Hartmut und sie selbst. Am 2. Weihnachtstag kam immer Mondie mit seinem Vater Herrn Grünberg und dessen neuer Ehefrau Hing-Bo zu Besuch - und immer hatten sie Tante Michelle im Schlepptau, mit der Herr Grünberg und Hing-Bo gar nicht so viel anfangen konnten und froh waren, dass Nona und ihre Familie ihnen etwas Last von den Schultern nahmen.

Weihnachten war schön und Nona freute sich jedes Jahr wieder darauf. Aber auch jedes Jahr wieder - und das ganz heimlich - wünschte sie sich auch ganz innig eines vom Weihnachtsmann: "Bitte, lass' mich wieder normal gehen können!". Heute war schon der 22. Dezember und Nona wünschte es sich diesmal ganz konzentriert und presste die kleinen Hände dabei ganz fest zusammen.

"ZARRDUSCHSCH...!" machte es plötzlich und vor ihr stand ein kleines Wesen - ganz in grün mit einem langen, spitzen Hut und einem merkwürdigen Schimmer um sich herum - Nona zuckte zusammen und wusste sofort: "Dies muss eine Fee sein!" Das kleine Wesen schaute dann auch keck zu ihr hinauf und kam gleich zur Sache: "Ich heiße Verdana und kann Dir Deinen sehnlichsten Wunsch erfüllen..." Nona entwich ein Freudenschrei "Heißt das, ich muss nicht mehr hinken und kann gehen, wie alle anderen auch? Oh, Verdana, das wäre einfach super-toll!" Das kleine Gesicht verzog eine komische Miene: "Nona, mein Kind, wenn das Leben nur so einfach wäre! Die Sache hat natürlich einen Haken: in ein paar Tagen ist Weihnachten und Deine und Mondie's Familie würden wie immer zünftig beisammen sitzen. Wenn ich Dir aber Deinen Wunsch erfüllte, würden 4 von Euch 8 nicht kommen - und zwar nie mehr. Nie mehr in Deinem Leben würdest Du sie wiedersehen. Überleg' es Dir gut, Nona, ich komme morgen abend wieder und werde Dich fragen, welche 4 Menschen es sein sollen, die auf immer verschwinden sollen. Morgen muss ich die Antwort haben, oder Du wirst nie wieder die Chance haben, normal zu gehen." Kaum hatte sie dies gesagt, schwang Verdana ihren Zauberstab und war mit einem erneuten, glitzernden "ZARRDUSCHSCH...!" so plötzlich von der Bildfläche verschwunden, wie sie gekommen war.

Nona rieb sich ungläubig die Augen: War dies jetzt wirklich passiert? Oder hatte sie schon Hirngespinste? Ach - wahrscheinlich hatte sie nur geträumt. Ja, das musste es sein. Sie war bestimmt kurz eingenickt und Verdana war gar nicht wirklich hier gewesen. Aber... falls doch...? Was, wenn es gar kein Traum war? Nona musste lange darüber nachdenken. Aber es war doch ein zu großes Opfer, dass sie da bringen sollte. Oder nicht? War das Leben nicht lang? Und würde sie diese 4 Menschen nicht irgendwann vergessen haben? Dafür könnte sie aber wieder ein normaler Mensch sein und hätte ganz, ganz viele andere neue liebe Menschen um sich... Sie grübelte noch eine Weile, beschloss, am nächsten Tag weiter zu überlegen und humpelte - völlig erschöpft - in ihr weiches, warmes Bett.

Am nächsten Tag war gar nicht an ausschlafen zu denken - Nona wachte schon um 5 Uhr morgens auf und begann, sich das Hirn zu zermartern: Wer war für sie unbedingt wichtig und durfte in ihrem Leben gar nicht fehlen? Klar: Mondie war wichtig. Und Mama und Papa und Hartmut natürlich auch. Und Tante Michelle! Ohne die würden die Feiertage überhaupt keinen Spaß mehr machen. Und Mondie's Vater Herrn Grünberg und seine Hing-Bo hatte sie auch unheimlich gern. Sie waren so lustig, wenn sie ihr mehrsprachiges Kauderwelsch von sich gaben! Na gut. Mal andersherum gedacht: Hing-Bo kannte sie noch gar nicht soo lange und außerdem verstand sie sie manchmal gar nicht so gut. Wenn sie aber nicht mehr wäre, würde Nona Herrn Grünberg damit sehr traurig machen und wahrscheinlich auch noch wütend. Es wäre dann besser, ihn gleich mit von der Liste zu nehmen. Und Hartmut als nächstes. Der kümmerte sich in seinem ganzen Studienstress sowieso nicht richtig um seine kleine Schwester. Das waren aber erst 3. Es blieben noch Mama, Papa, Mondie und Tante Michelle. Einer davon musste noch weg. Aber wer? Sollte sie auf Mondie verzichten? Der würde ohnehin verärgert über den Verlust seines Vaters und dessen Frau sein. Tante Michelle? Nein! Obwohl die bestimmt auch nicht einverstanden mit Nona's selbstsüchtiger Entscheidung wäre. Mama und Papa aber schon gar nicht...

So und ähnlich ging es ihr im Kopf herum - bis zum Abend - und da wusste sie noch immer nicht, was sie tun sollte. Bald würde Verdana wiederkommen. Panik stieg in ihr auf - sie wollte doch so gern wieder laufen!!!

Es wurde später und später und keine Spur war von der frechen, kleinen Fee zu sehen. Nona wurde bereits langsam müde. Schon fingen ihre Augenlider an, herunter zu klappen. Doch da plötzlich machte es wieder "ZARRDUSCHSCH...!" und das kleine, grün gekleidete Wesen stand erneut vor ihr. "Nun? Hast Du Dich entschieden, Nona?" "Ja - das habe ich!" schrie Nona jäh auf "Ich liebe diese Menschen, sie sind meine Familie, ich will niemanden von ihnen verlieren. Scher' Dich zu Teufel, ich will nie wieder etwas von Dir hören!!!" Daraufhin lächelte Verdana und sprach: "Gutes Kind, ich hatte gehofft, dass Du das sagst. Warte nur, Du wirst in wenigen Tagen etwas Wundervolles erleben, denn Du hast eben bewiesen, dass Du ein guter Mensch bist!", womit Verdana so schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war. Nona wachte am nächsten Morgen wie gerädert auf und wusste gar nicht, ob sie alles nur geträumt hatte.

Der 2. Weihnachtstag war so nett wie immer mit allen ihren Lieben. Aber diesmal wusste es Nona noch viel mehr zu schätzen als sonst und war richtig glücklich. Als schon alle da waren, klingelte es plötzlich nochmal an der Tür und Mama holte einen fremden, freundlich aussehenden Mann herein. Freudestrahlend sagte sie "Nona, dies ist noch ein Weihnachtsgeschenk für Dich. Sag' guten Abend zu Dr. Winter. Wenn Du möchtest, wird er Dich operieren und er ist sehr guter Hoffnung, dass er Dein Bein wieder hinkriegen kann. Willst Du es versuchen?" "Ja Ja natürlich! Ein Glück, dass Ihr alle noch lebt! Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn... Danke, Verdana! Du bist die beste Fee der Welt!!!" schrie sie und alle schüttelten ein wenig den Kopf, denn jetzt schien sie mit der Hoffnung auf ein gesundes Bein völlig den Verstand verloren zu haben. Den zarten grünen Schimmer draußen am Fenster bemerkte jedoch niemand....

Copyright ©2000 Regina Weißenberg