Eine Ausschreibung zum Thema Realitätsverlust. Da musste ich lange überlegen. Mein Freund Peter half mir auf die Sprünge mit einer selbst-ersponnenen Geschichte, die ich sehr beeindruckend finde:
Rudolfo’s Welt

Damals war alles ganz anders. Sie hatten ihn gehänselt. Bis aufs Blut. „Rudolfo ist so klein, der passt in Streichholzschachteln rein!“ hatten sie ihm nachgerufen. Und Streiche hatten sie ihm gespielt – immer war er derjenige, der den Eimer Wasser über den Kopf bekam oder kopfüber in die Mülltonne gesteckt wurde, so dass er sich nur mit Mühe wieder befreien konnte. Bis zur Verzweiflung hatten sie ihn getrieben. Zu Hause hatte er geheult und seine Eltern angeschrieen, hatte es verflucht, dass die verdammten Zwerge ihn überhaupt zur Welt bringen mussten. Wie egoistisch sie waren! Als Liliputaner mussten sie doch gewusst haben, was für eine schreckliche Welt sich ihrem kleinen Nachwuchs präsentieren würde.

Damals – in einem besonders verzweifelten Moment - hatte er seinen Schwur abgelegt. „Ich bin klein – aber ich werde einer der ganz Großen werden.“ Die kleinen Fäuste waren geballt gewesen, so fest, dass die Fingernägel ins Fleisch schnitten „Ich werde groß rauskommen und niemand wird mich jemals wieder hänseln. Niemals wieder!“

Und jetzt hatte er es geschafft! Als „Rudolfo – der kleinste Clown der Welt“ war er mittlerweile beim renommiertesten Zirkus des Landes. Alle wollten ihn sehen – ob jung oder alt – und alle liebten sie ihren Rudolfo. Wie gut war es doch, dass er so klein war. Er grinste ein wenig. Nur deshalb hatte er ja so großen Erfolg. Was machte es da schon, dass er den ehemaligen „Kleinsten Clown der Welt“, Shorty, von seinem Podest gestoßen hatte?, dachte er stirnrunzelnd. Schließlich war Rudolfo zwei cm kleiner als Shorty, es war also sein rechtmäßiger Titel. Dass Shorty von da an nur noch kleine Engagements in unbekannten Zirkusmanegen bekam und am Hungertuch nagen musste, war ja schließlich nicht sein Problem, oder?

Nein – Rudolfo fühlte sich pudelwohl. Er kicherte leise vor sich hin. Er hatte einen eigenen großen Zirkuswagen mit allen Raffinessen. Der Wagen war für ihn maßgeschneidert, alles darin war an seine Körpergröße angepasst. Und er war wunderschön. Das allerschönste in dem Wagen war aber ein antiker Kleiderschrank, der sehr wertvoll war, weil es ihn in dieser Größe nur einmal auf der Welt gab. Er war einmal für eine kleine Prinzessin gemacht worden, vor vielen, vielen Jahren und als die Prinzessin gewachsen war, ist er verkauft worden. In diesem schönen Schrank bewahrte er nun nur seine besten Sachen auf – auch sein maßgeschneidertes, exklusives Clownskostüm. Immer verschloss er den Schrank sorgfältig, nachdem er etwas herausgenommen hatte.

„Schön“ lächelte er, „So soll es sein und nicht anders.“ Er rieb sich verzückt die Hände „niemals mehr möchte ich größer werden. Es ist gut, dass ich so klein bin“. In seinen Mundwinkeln zuckte es „ich will immer so bleiben!“.

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Kommissar Quentin hatte noch seine Gaulloises im Mundwinkel, deshalb wartete er einen Moment draußen. Dabei fingerte er schon mal um die Ecke, um den Lichtschalter zu finden. Da war er – aber er funktionierte nicht. Die Vorstellung war bereits in vollem Gange, er würde wohl niemand hier in der Nähe finden. Leicht schnaufend trat er die Gaulloises aus, betrat den Zirkuswagen und klickte sein Zippo-Feuerzeug an. Er fand eine Kerze auf dem antiken Tischchen. So konnte er wenigstens ein bisschen sehen.

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Ein großer schwarzer Wagen entfernte sich unterdessen vom Schauplatz in Richtung Leichenschauhaus.

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Was war geschehen? überlegte Quentin und rieb nachdenklich mit der Hand über seine Bartstoppeln. Sie roch nach französischem Tabak. Wie ausnehmend schön dieser Zirkuswagen doch war – trotz schwacher Beleuchtung. Warum beging ein so berühmter, beliebter Mann wie Clown Rudolfo Selbstmord? Mit dem Zwergendasein schien er doch gut klargekommen zu sein. Dieser Schrank sah wirklich exquisit aus. Rudolfo musste er sehr viel wert gewesen sein, den Schlüssel hatte man am Hals des Toten gefunden, der Schrank war wie immer ordentlich verschlossen. Quentin starrte nachdenklich auf den Boden. Feine Stäubchen lagen um den Fuß des Schrankes herum. Wo es doch sonst so sauber hier war. „Sieht aus wie Sägespäne, die jemand versucht hat, wegzuwischen...“ sinnierte er. Kopfschüttelnd und schulterzuckend wischte er den Gedanken weg. „Ruhe in Frieden, kleiner Clown“ flüsterte er und verließ den Wagen.

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Aus der Manege klang schallender Applaus. Shorty war ein toller Clown – ein wahres Talent. An Rudolfo konnte sich das Publikum schon nicht mehr erinnern. Was für einen Unterschied machte es schon? Dieser Clown war ja auch ein Zwerg, wenn auch zwei cm größer.

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Ein wissendes Lächeln umspielte Shorty’s Mundwinkel. „Wie gut, dass ich mich so in ihn hineinversetzen konnte. Ich wusste, was das Schlimmste für ihn sein würde.“ Er verbeugte sich noch mal vor dem jubelnden Publikum und grinste inzwischen breit. „Was für eine simple Idee es doch war“ er rieb sich begeistert die Hände, „die Füße des Schrankes abzusägen ging sehr schnell. Das Licht kaputt zu machen ebenfalls.“ Er sah Rudolfo förmlich vor sich, als er im Dunkeln versuchte, den Schlüssel ins Schlüsselloch seines geliebten Schrankes zu stecken. Er konnte fast fühlen, wie der Schreck durch Rudolfo’s ganzen Körper gegangen sein musste: das Schlüsselloch war tiefer als zuvor – er musste gewachsen sein!!

Jetzt lachte Shorty laut los; immer lauter. An seinem kleinen Zirkuswagen angekommen, hielt er sich seinen Bauch und lachte in fast schmerzhaften Intervallen. Als der Anfall vorüber war, zischte er leise: „Das hast Du von Deinen zwei Zentimetern, Du kleines Biest. Sie haben Dir nichts genützt. Der kleinste Clown der Welt ist Shorty.“